Du hast Part 5 dieser Blogserie bereits gelesen? Gut so, denn Du bist immer noch im Bahnhofsgebiet unterwegs und möchtest eigentlich nur zu Deinem Hotel.
Die Person, die die Straßenseite gewechselt hat, lehnt circa 40 Meter vor Dir an der Hauswand und schaut sich gelegentlich um.
Du verlangsamst Deine Gehgeschwindigkeit und siehst, dass die Person in Höhe des dortigen Kiosk steht und eine weitere Person beim Verlassen des Kiosks stoppt.
Dein Bauchgefühl und die Bewertung des Verhaltens der Personen haben Dich nicht getäuscht. Etwas "stimmt nicht", aber Du bist anscheinend nicht der Adressat. Gut so.
Zwischen den beiden Personen vor Dir auf dem Gehweg kommt es augenscheinlich zu einem Streit und Du beobachtest das Geschehen aus dem folgenden Video.
Du hast das Video gesehen? Was ist passiert?
Eine Person wurde durch eine andere Person niedergeschlagen.
Schaut man aber auf die Details, so können wir hier verschiedene Aspekte betrachten.
Eines darf man aber beruhigend vorwegnehmen. Die in der Selbstverteidigung beliebte überdimensionale Gewichtsverlagerung sowie die übertriebene Ausholbewegung zum Schlag fehlen.
Beide Personen stehen voreinander. Die geschädigte Person wählt hier einen sehr engen Abstand zum Angreifer und verschränkt zusätzlich die Arme.
Die angreifende Person verlagert den Körperschwerpunkt auf das andere Bein und "lädt" die Hüfte zur Ausführung des Schlages aus.
Die Schlagkraft wird mittels Rotation des Körpers entfaltet und eine erneute Gewichtsverlagerung ist deutlich sichtbar - Körpermechanik.
Es ist deutlich zu erkennen, dass die geschädigte Person intuitiv die Arme zur Verhinderung des Angriffs hochreisst.
Wir empfehlen in dieser Situation einen größtmöglichen Abstand zu wählen und die Hände in Höhe der Schultern des Aggressors zu halten. Hierdurch wird ein schlagender Angriff erschwert und parallel eine defensive Position mit diversen Möglichkeiten aufgebaut.
Schauen wir uns das Video nochmal in Zeitlupe an und konzentrieren uns auf die Anzeichen, die erkennen lassen, dass die angreifende Person zum Schlag ausholt.
Konzentrieren wir uns genau auf diese Anzeichen, so können wir das Vorhaben der angreifenden Person lesen und dementsprechend auch handeln.
Wir müssen aber versuchen, bereits im Vorfeld die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen und hierdurch die Angriffshandlung zu erschweren respekte gänzlich zu stören.
Auch hier bleibt der Grundsatz aus Part 2 - Mobilität vor Statik. Die eigenen Händen werden in Höhe der Schultern der angreifenden Person positioniert. Somit hat auch die angreifende Person ständig ihre Handlungen anzupassen.
Befassen wir uns an dieser Stelle kurz mit der sogenannten OODA Loop von John Boyd.
Die OODA Loop bedeutet im Einzelnen:
- OBSERVE - wahrnehmen
- ORIENT - bewerten
- DECIDE - entscheiden
- ACT - handeln
Und genau diesen Entscheidungsprozess wollen wir durchbrechen. Durch ein eigenes aktives Handeln verändern wir die Situation, während die angreifende Person die Veränderung im Sinne dieser Schleife verarbeiten muss. Wir kontrollieren für einen Moment die Situation. Diese Situationskontrolle möchten wir auch nicht mehr aufgeben.
Stellt man die OODA Loop nicht als Schleife, sondern als Zeitdiagramm dar, wird die Erforderlichkeit des Durchbrechens des Entscheidungsprozess der angreifenden Person deutlich.
Durch statisches Verhalten, der falschen Distanz zur angreifenden Person und vor dem Körper verschränkten Armen (Abb. 01), ist die Entscheidung zum Schlag gegen den Kopf durch die angreifende
Person schnell gefasst.
Sie muss hierfür nur noch den Schlag ausführen (ACT). Als angegriffene Person bzw. verteidigende Person muss ich diese Schlagausführung erst wahrnehmen (OBSERVE), bewerten (ORIENT), eine
Entscheidung treffen (DECIDE) und letztens auch noch richtig handeln (ACT).
Der Vorteil liegt hier klar auf der Seite des Angreifers. Gerade dann, wenn ich aufgrund mangelnder Erfahrung und Training sowie dem entstehenden körperlichen und emotionalen Stress gegebenenfalls nicht mehr hundertprozentig funktioniere.
Es ist daher nicht zwangsläufig relevant, ob ich im Vorfeld bereits wahrnehmen kann oder ich beim Verlassen des Kiosks aus einem "toten Winkel" abgepasst werde.
Der Grundsatz bleibt, dass ich selbst die Kontrolle der Situation übernehmen muss. Ob nun durch Verlangsamen der eigenen Gehgeschwindigkeit und Wahl eines anderen Weges oder durch schnelles, situatives Reagieren im direkten Einwirkungsbereich einer anderer Person.
Wichtig ist nur, dass ich mich aktiv für Handlungen entscheide, die das "gegnerische Vorhaben" unterbrechen und auch dort zu einem neuen Entscheidungsprozess führen müssen.
Betrachten wir das Video mal aus einem anderen Aspekt heraus, so sehen wir ein dominantes, komfortables Verhalten bei der angreifenden Person und ein unterwürfiges, unkomfortables Verhalten bei der geschädigten Person.
Anhand dieser Körpersprache kann ich im Bereich der Bewertung von einzelnen Personen, Personengruppen, aber auch zur Bewertung des geographischen und atmosphärischen Verhaltens wertvolle Informationen gewinnen.
Hierzu aber später mehr...