Fast genau drei Jahre sind nach Part 6 dieser Blogserie vergangen und es wird Zeit sich wieder Gedanken zu machen.
...und anscheinend kommt es doch auf den "Charakter" an.
Aber so simpel es auch klingen mag, so einfach ist es nicht. Wir haben nicht immer die Zeit und Möglichkeiten vorhandene Situationen klar zu erfassen, zu bewerten, eine Entscheidung zu treffen und richtig zu handeln.
Wir agieren nicht immer aus einer eindeutigen Situation heraus. Im Training nutzen wir einen Vorteil - wir wissen, dass wir uns gerade in einer Simulation oder in einem Szenario befinden und wir wissen, dass die Möglichkeiten des Geschehens überschaubar sind. Gerade dann, wenn man nur innerhalb eines klassischen Gyms trainiert. Das was in einem Gym umgesetzt wird, kann vielleicht schon nicht mehr innerhalb einer komplexeren Örtlichkeit umgesetzt werden.
Wenn mein Training jetzt schon nicht mehr greift, wie kann es in einem Überraschungsmoment greifen? Wie auch? Ein Hinterhalt bleibt nunmal ein Hinterhalt und letztendlich diktiert die Situation mein Vorgehen und über meine Handhabung der Situationen entscheiden viele weitere Faktoren.
HIT THAT MOTHERFUCKER - WEN SOLL ICH HAUEN???
Eine von vielen Phrasen, die die Welt des Selbstschutztrainings zieren und zeitgleich viele Trainingsnarben bergen.
Wie sieht eigentlich dieser "Bad Guy" aus? Dieser "Bad Guy" auf den man sich gerne mit vollem Einsatz vorbereitet und den es gilt mit aller Härte im Ernstfall niederzuschlagen?
Jeder dürfte ein eigenes Bild vor Augen haben oder ein Bild durch einen Trainer oder Trainingspartner verbal und nonverbal projiziert bekommen haben. Ein Bild dessen man sich im Kontaktmanagementtraining sehr häufig bedient.
Wenn man jetzt für zwei Sekunden die Augen schließt und sich einen Terroristen vorstellt.
Die wenigsten dürften jetzt zum Beispiel Anders Breivik oder Brenton Tarrant vor Augen gehabt haben, sondern bedienten sich eines anderem Stereotypen.
Doch was, wenn diese klischeehaften Bilder auch zeitgleich die Feindbilder werden gegen die wir uns vorbereiten?
Ist dies der Fall so bereiten wir uns letztendlich nur auf sehr wenige Szenarien oder Charaktere vor. Im Gym sind diese stereotypischen Bilder im Training für viele Anwender ausreichend, da das Gym eine kleine in sich geschlossene Welt wiederspiegelt. Oftmals mit eigenen Vorstellungen und Ideologien im Bezug auf Aggression und Gewalt. Die Realität hingegen ist weit vielfältiger aufgestellt.
Weicht eine Situation vom Vorstellbaren oder Erwarteten ab, macht sich Überforderung breit. Die Situation kann vielleicht überhaupt nicht richtig erfasst werden oder emotionale und moralische Probleme lassen einen stillstehen. Der Mann im Anzug mit dem Aktenkoffer, ja es soll so Taschendiebe geben.
STILLSTAND BEDEUTET GEFAHR - STILLSTAND KANN TÖTEN
Man ist gefangen in der Situation und muss nun Entscheidungen treffen.
Die Universallösung greift nicht mehr, da der "Bad Guy" ein anderer ist.
Manchmal reicht es bereits aus, den "Bad Guy" in einem Szenario auszutauschen und die Teilnehmer geraten in vollkommene Handlungsunfähigkeit. Stillstand tritt ein.
Gegen das klassische Feindbild, vielleicht der Typ mit dem Messer, haben wir uns schon tausendmal vorbereitet und wir haben eine Idee, wie man gegen ihn vorzugehen hat. Logisch... es wird wahrscheinlich nur diesen einen Angreifer und diesen einen Angriff geben.
Doch was ist, wenn man diesen Charakter einfach mal austauscht. Vor uns steht nun eine schwangere Frau mit einem Messer oder vielleicht eine schwangere Frau mit einem Messer und einem fünfjährigen Mädchen an der anderen Hand.
Wie sieht denn nun das individuelle Vorgehen aus. Klar, manch einer wird nun sagen, wie immer...
Haben wir solch ein Szenario wirklich je zuvor visualisiert oder tatsächlich trainiert? Haben wir uns wirklich zuvor Gedanken darüber gemacht, wie man in einem solchen Szenario vorgehen könnte.
Bin ich wirklich bereit Gewalt gegen eine schwangere Frau, ein Kind, einen Jugendlichen oder einen behinderten Menschen auszuüben, wenn es die Situation erfordert?
Oder doch nochmal zurück zum klassischen Feindbild, der Typ mit dem Messer. Was ist eigentlich, wenn ich selbst in diesem Szenario meine dreijährige Tochter auf dem Arm habe und mein achtjähriger Sohn neben mir steht?
Wie schaut dann mein Vorgehen in diesem Beispiel aus?
Bin ich wirklich bereit im Beisein meines Kindes harte Gewalt gegen einen anderen Menschen auszuüben, wenn es die Situation erfordert?
Wichtig ist zu verstehen, dass nicht jedes Szenario trainiert werden kann und es den einen Lösungsweg nur sehr selten geben wird. Zwischen schwarz und weiß werden wir sehr viel grau vorfinden.
Manche Dinge können aber zumindest in Videoauswertungen, Coachings und Gedankengängen professionell angegangen und beleuchtet werden. Meines Erachtens ein wichtiger und wesentlicher Aspekt innerhalb der Trainings.
Unser Grundsatz - es ist besser schonmal dort gewesen zu sein - genießt hier eine hohe Priorität.
Aggression und Gewalt sind asymmetrisch und unser Training sollte bestmöglich darauf vorbereiten. Fakt ist, dass ein technisches Training erstmal sehr eindimensional abläuft. Die Kernelemente eines jeweiligen Konzepts müssen erlernt werden. Aber Fakt ist auch, dass es nicht nur die eindeutigen, oftmals propagierten Auseinandersetzungen gibt.
Es gibt zum Beispiel nicht nur den "Vergewaltiger". Der verschwitzte Mann mit dem schlechten Atem, der eine Frau zu Boden reißt. Visualisierung und Manipulation können sicherlich zur Trainingsgestaltung genutzt werden, aber können auch Trainingsnarben hinterlassen. Gerade dann, wenn Ereignisse eintreten, die zuvor mit anderen Bildern ins Gedächtnis eingeprägt wurden und die eigene Handlungskompetenz durch diese Einprägungen eingeschränkt werden. Der gut gelaunte, aber betrunkene Schwager auf der Silberhochzeit der Schwiegereltern, ja es soll so Vergewaltiger geben.
Wie oft hört man, dass die Situation richtig erfasst wurde, aber man selbst wie gelähmt und überfordert neben sich stand, da man keinen Zugang zum Geschehenen fand - man niemals zuvor "dort gewesen" ist. Alles, was man zuvor trainiert oder gehört hat, lässt sich nicht auf die gegenwärtige Situation projizieren.
Wie gesagt, Stillstand bedeutet Gefahr und man muss sich davon befreien, dass immer genau die Charaktere und Situationen auftreten, auf die man sich so gerne vorbereitet und vorbereitet wird.
...mehr hierzu in Kürze.
Cheers J